Spoon Theory
Ein Gedankenexperiment zur Visualisierung der eigenen Belastungsgrenzen
Akzeptanz der eigenen Belastungsgrenzen
Wenn mich nicht-behinderte Menschen nach Hürden in meinem Alltag fragen, sind die baulichen und systematischen Barrieren oftmals die Hauptthemen, die ich anspreche. Ich vergesse dann oft selbst, dass ich auch meinen Alltag zu Hause oder in einem mir bekannten barrierefreien Umfeld trotzdem an meine Behinderung anpasse. Wenn wir im Verlauf des Gesprächs darauf kommen, wird deutlich, dass bestimmte Aspekte unserer Tagesplanung komplett anders verlaufen. Konkret bedeutet das für mich: Ich kann meinen Tag nicht so durchtakten wie nicht-behinderte Menschen, denn ich kann nicht zwölf Stunden am Stück sitzen.
Autotransfers, Tätigkeiten, bei denen ich über einen längeren Zeitraum beide Hände und Arme benutze (wie z. B. beim Gärtnern oder Kochen) oder lange Autofahrten sind körperlich anstrengend und kosten viel Energie. Bei der Tagesplanung muss ich darauf achten, mit meinem Energielevel ein bisschen hauszuhalten, weil alltägliche Dinge mich mehr anstrengen, als dies nicht-behinderten Menschen der Fall ist.
Diese entschleunigte Art der Tagesplanung kann in unserer schnelllebigen und leistungsorientierten Zeit oftmals auf Irritationen stoßen. Schwäche zu zeigen und Hilfe annehmen zu müssen oder zu wollen, weil man dann anschließend die gesparte Energie für etwas anderes aufbringen kann, gehören in unserer Gesellschaft selten zu ehrenhaften Tugenden. Das Konzept des eigenen Energielevels scheint nicht greifbar genug, um sich wirklich daran orientieren zu wollen und konsequent auf die eigenen Belastungsgrenzen achten zu können.
Mentales und körperliches Energielevel anhand von Löffeln erklären
Die US-amerikanische Bloggerin Christine Miserandino prägte 2003 die „Spoon Theory“, also die „Löffel-Theorie“, um ihre Lebensrealität mit einer chronischen Krankheit erklärbarer zu machen. Sie stellte ihr mentales und körperliches Energielevel anhand von Löffeln dar und erklärte, dass die Anzahl der ihr verfügbaren Löffel nach Tagesform etwas höher oder niedriger ausfällt. Die Löffel visualisieren, wie viele Aktivitäten Miserandino an einem Tag schaffen kann. Duschen, Kochen, eine Autofahrt – Dinge, die Menschen ohne chronische Krankheit oder Behinderung oftmals gar nicht hinterfragen, kosten andere viel Kraft. Miserandino zeigte so auf, dass sie und viele weitere Menschen ihre Tage planen, ihre Energie sehr genau im Blick behalten und auch Entscheidungen treffen müssen, auf was sie gegebenenfalls verzichten müssen, weil ihre Möglichkeiten nicht endlos sind.
Seitdem hat diese Erklärungshilfe großen Anklang gefunden, außerdem hat sich eine Gemeinschaft aus Behinderten und chronisch Kranken geformt, die sich selbst als „Spoonies“ bezeichnen. Dieses Erklärungsmodell trägt dazu bei, eine von der Norm abweichende Lebensrealität darzustellen. Im Idealfall hilft diese offene Kommunikation, eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen oder zumindest das Verständnis im eigenen Umfeld zu stärken.
Die Gemeinschaft der „Spoonies“ schafft vor allem auch in den sozialen Medien einen Ort für Unterstützung und Verständnis, da fest abgesteckte persönliche Grenzen innerhalb der restlichen Gesellschaft oft abgewertet oder nicht ernst genommen werden.
In dieser Community werden alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Belastungsgrenzen und vermeintlichen Schwächen akzeptiert, aber niemand wird auf seine Krankheit oder Behinderung reduziert.
Das große Freizeitangebot, die immerwährende Verfügbarkeit aufgrund sozialer Medien und die Verwischung der Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben erhöhen den Druck, immer beschäftigt, immer unterwegs sein zu wollen. Nicht allen Menschen ist das möglich. Während Achtsamkeit und Self-Care einen riesigen Hype erleben, managen Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten schon lange diesen Spagat zwischen den eigenen Möglichkeiten und ihrem Berufs- und Privatleben. Zum Teil auch mit schmerzhaften Einbußen.
Ich habe nach einem harten Crash* realisiert, dass auch, wenn ich viel länger am Schreibtisch sitzen wollen würde, abends öfter und länger ausgehen würde und das Gefühl habe, nicht genug geschafft zu haben, mein Körper diese entschleunigten Tagesplanungen braucht und ich kontraproduktiv handle, wenn ich nicht darauf eingehe. Auch wenn diese Einsicht schmerzhaft ist, konnte ich mich so von der Illusion der ewigen Optimierung verabschieden. Es reicht nicht, eine entspannte Sonntagabendroutine einzuführen, wenn ich den Rest der Woche ständig über meine Grenzen hinweggehe. Mein Energielevel ist mein Kompass, und den kann ich drehen wie ich will – er sagt an, wo es lang geht.
*Als „Crash“ werden die Situationen beschrieben, die auf eine Überanstrengung folgen. Dies können Schmerzintensivierungen, Kreislaufprobleme, Herzrasen, bei psychischen Krankheiten auch selbstverletzendes Verhalten, Panikattacken etc. sein.
Lesen Sie mehr von Sabrina Busch:
Besuchen Sie Frau Busch auch auf Instagram: @fraufroschschreibt